Etwa zur gleichen Zeit hielt ein schwarzer SUV am Bonaventure Hotel. Don und Megan sprangen heraus, sahen sich kurz um, als sie die Türen zuwarfen und gingen in das Gebäude. „Was hast du jetzt vor? Den Mann hier drin behalten?“ fragte die FBI-Beamtin ihren Partner. Doch Don schüttelte den Kopf. „Nein. Wir lassen das Überwachungsteam ihn weiter beobachten. Charlie ist ja zum Glück schon im Van. Vielleicht kann er mir etwas zur vermutlichen Tatmethode sagen, die sich hier anbieten würde. Du kannst schon mal wieder raus gehen und dir die Umgebung genauer ansehen. Wir treffen uns am Eingang. Ich bin in zwei Minuten dann auch dort.“ Die Beiden trennten sich und Don marschierte zu ein paar Leuten, die sich hinter Zeitungen in Lobby-Sesseln versteckten. „Leute, wir sind hier nicht beim Film“, raunte er die beiden Kollegen an. Die sahen überrascht über ihre Zeitungen hinweg. „Wieso?“ „Ihr passt so gut hierher wie eine Sonnenblume auf den Mond“, stellte Don fest. Die beiden Angesprochenen sahen sich mit großen Augen an. „Also bitte etwas professioneller hier“, bat der Senior Agent die beiden jüngeren Männer. Nachdem sie die Zeitungen beiseite gelegt und sich nun anders hingesetzt hatten, bekamen sie von Don ihre weitere Aufgabe zugeteilt: „Ihr beiden behaltet Lu Han im Auge. Haltet ihn ein wenig auf, damit wir etwas Zeit gewinnen. Gebt uns über Funk durch, wenn er wieder heraus kommt.“ Die beiden FBI-Beamten nickten zum Zeichen, dass sie verstanden hatten.
Dons Weg führte nun wieder nach draußen zu seiner Kollegin, die am Eingang auf ihn wartete. Auf dem Weg zu ihr kramte er seine Funkverbindung hervor und kontaktierte den Van, in dem Charlie wieder mit David und Colby weilte. „David?“ „Ja, was gibt es, Don?“ „Hat Charlie schon etwas bezüglich der Methode?“ „Ja, wahrscheinlich wie beim letzten Mal.“ „Also der Scharfschütze“, sagte Don gerade so laut, dass auch Megan ihn verstand. Dann beendete er das Gespräch. „Und?“ fragte er seine Kollegin nur, doch sie verstand. „Zum Schießen gibt es hier genug gute Gebäude, die auch die entsprechende Höhe aufweisen.“ Mit der Hand zeigte sie auf ein paar Punkte, die für sie am Wahrscheinlichsten in Frage kamen. Dons Blick folgte ihrer Hand und sein Blick blieb am U. S. Bank Tower hängen. Ein Gefühl meldete ihm, dass er als der Killer dieses Gebäude ausgewählt hätte und sein Instinkt hatte ihn selten getrogen. Unbewusst kramte Don in seiner Jackentasche nach einem Kaugummi. Über Funk beauftragte er David: „Hol‘ mir jemanden ran, der mich in den U. S. Bank Tower lässt.“ „Nicht nötig“, kam kurze Zeit später die Antwort, „es ist noch ein Wachmann vor Ort. Er wird dich reinlassen.“ “Sehr gut“, murmelte Don und bekam endlich ein Kaugummi zu fassen, welches er sich sofort in den Mund schob.
Die Mitte des Fadenkreuzes war auf das Kaugummi ausgerichtet, welches Don Eppes sich gerade in den Mund beförderte. Der Finger lag am Abzug und zog leicht. Doch er erreichte nie den Punkt, an dem die Kugel aus dem Lauf katapultiert worden wäre. ‚Priorität eins‘, ging es Adrian durch den Kopf. Don Eppes war nur Priorität zwei und hätte er ihn nun aus dem Weg geräumt, würde er sein eigentliches Ziel nicht erreichen können. Wer trat schon freiwillig ins Freie, wenn dort gerade jemand erschossen worden war und noch keine Meldung bekannt war, dass der Täter gefasst worden war. Adrian schloss die Augen, sein Herz pochte in seiner Brust. Er wusste, dass dieses Spiel langsam gefährlich wurde. Das FBI war ihm so dicht auf den Fersen, dass er ihren Atem bereits im Nacken spüren konnte. Aber er hatte keine andere Wahl. Und ob er jetzt hier oder später woanders versuchen würde, sein Ziel zu erreichen, war vollkommen egal. Das FBI würde ihn überall aufspüren, vor allem mit der Hilfe von Charlie Eppes. ‚Priorität eins‘, hämmerte es ihm nun immer wieder passend zu seinem Herzschlag durch den Kopf. Er musste sich auf das Wichtige konzentrieren. Danach konnte er sich um das FBI kümmern.
Das Fadenkreuz wanderte von den beiden FBI-Beamten weg, an der Fassadenfront des Gebäudes nach oben. ‚Zimmer 516‘, dachte sich Adrian. Die Nummer hatte er erfahren, als er beim Hotel angerufen hatte und sich als der Chauffeur von Mr. Han ausgegeben hatte. Aber wie konnte man von außen etwas mit der Zimmernummer anfangen? Zielsicher visierte Adrian den fünften Stock des riesigen Hotels an. Nun blieb es an ihm, die Nummer sechzehn zu finden. Die meisten Vorhänge waren nicht zugezogen, so dass es ihm nicht schwer fiel, in die Räume zu schauen. Mit Hilfe des im Visier eingebauten Wärmebildgerätes konnte er schnell feststellen, in welchen Zimmern Personen waren und in welchen nicht. Waren die Umrisse eines Menschen zu erkennen, so schaltete er die Sicht auf Nachtsicht um, damit er prüfen konnte, ob es seine Zielperson war.
Nachdem Don endlich auf seinen Kaugummi kaute, wandte er sich wieder Megan zu. „Ich gehe rüber zum Tower und checke die Lage“, gab er ihr zu verstehen. „Alleine?“ „Ja, du holst den Wagen und parkst ihn dort. Danach gehst du zum Van und schaffst Colby herbei. Haltet euch in der Nähe des Towers auf und behaltet die Umgebung im Auge. Dieses Mal will ich den Kerl endlich haben.“ „Verstanden“, sagte sie kurz und knapp und sah einen Moment ihrem Kollegen hinterher, der sich bereits auf den Weg gemacht hatte. Sie hatte ein mulmiges Gefühl, ihren Vorgesetzten so ganz alleine dorthin gehen zu lassen, doch schließlich wusste sie, wie gut er gefährliche Situationen meistern konnte. Sie hoffte, dass alles gut gehen würde, wenn es hart auf hart kam. Immerhin hatten sie es nicht mit einem daher gelaufenen Kleinkriminellen zu tun, das wurde ihr nun wieder einmal bewusst. Sie zögerte einen Moment. Sollte sie nicht doch besser mitgehen? Sie ließ das Fahrzeug Fahrzeug sein und lief Don eilig hinterher. „Ich lasse dich nicht alleine da rein gehen, das ist viel zu gefährlich“, teilte sie ihrem überrascht dreinschauenden Partner mit.
Dass die beiden FBI-Agenten sich in seine Richtung auf den Weg gemacht hatten, war Adrian entgangen bei seiner intensiven Suche nach dem Ziel. Nach schier endlos erscheinenden Minuten hatte er endlich Lu Han im Fadenkreuz. Ein letztes Mal prüfte er die Wetterverhältnisse und justierte das Zielfernrohr neu. Ein leises Quietschen verriet ihm, dass jemand die Tür zum Dach geöffnet hatte. Doch davon ließ er sich nun nicht mehr beeindrucken, als er sanft den Abzug betätigte. Durch das Visier vergewisserte er sich sogar noch, dass er getroffen hatte, bevor er aufsprang und das Gewehr schulterte. Im selben Moment kam die von Don gebrüllte Aufforderung: „Keine Bewegung! FBI!“ Und Megan fügte an: „Nehmen Sie die Hände hoch!“ Adrian erstarrte und folgte den Anweisungen. Er stand mit dem Rücken zu den Beamten und ahnte, was nun kommen würde. „Wer sind Sie?“ fragte Don, während er sich dem Killer langsam mit seiner Waffe im Anschlag näherte. Megan verharrte auf ihrem Platz und hielt den Mann so mit ihrer Waffe unter Kontrolle. Versuchte er etwas, würde sie abdrücken und in jedem Falle treffen. Von dem umgehängten Gewehr ging keine Gefahr aus, darüber waren sich die beiden FBI-Beamten einig, ohne dass sie es in Worte fassen mussten. „Adrian“, hörte Megan den Mann antworten.
Don erstarrte. Diese Stimme war ihm wohl bekannt. Verdammt, er hatte es gewusst! „Nick?“ rutschte ihm traurig heraus. Dieser drehte sich nun um. „Tut mir leid, Don“, meinte er leise, aber es war aufrichtig gemeint. „Warum?“ wollte der der FBI-Beamte nur wissen. „Weil es mein Auftrag ist“, gab Nick zurück. „Aber die NSA operiert doch nicht im eigenen Land!“ Dons Verständnislosigkeit wich Verzweiflung. Nick musterte ihn kurz, bevor er sagte: „Deswegen durfte ich ja auch keine Spuren hinterlassen. Aber ich wusste, dass du den Fall irgendwann lösen würdest, bevor ich wieder abreisen konnte.“ Die beiden Brüder sahen sich einen Moment lang an. Megan verharrte in ihrer Position, sie wollte den Täter nicht entkommen lassen, egal wer er war. „Ich verstehe nicht, was es der NSA bringt, die Führungsetage der Triade auszuradieren?“ wunderte sich Don. „Ganz einfach, die NSA will ihre eigenen eingeschleusten Leute auf diese Positionen bringen“, erklärte Nick, der immer noch mit erhobenen Händen da stand.
Mit einer plötzlichen Bewegung war Nick neben Don und es entstand ein Gerangel um die Waffe. Megan konnte nicht schiessen, weil die Gefahr zu groß war, dass sie ihren Partner traf. Im Nu hatte Nick Don entwaffnet. Durch das Gerangel war dieser etwas zurück gestolpert und zu Boden gegangen. Er sah auf und entdeckte, dass der Lauf seiner eigenen Dienstwaffe auf ihn gerichtet war. In Gedanken fragte er sich, ob Nick wirklich abdrücken würde. „Don? Du bist das nächste Ziel“, wurde er von seinem Bruder aufgeklärt. Der am Boden liegende FBI-Beamte war sprachlos. Warum sollte die NSA ihn auf der Liste haben? Megan zielte weiter auf Nick. „Nimm‘ die Waffe herunter“, forderte sie ihn auf. „Nein“, gab er zurück, „wenn hier einer die Waffe weglegt, Megan, dann du, sonst ist Don tot. Was mit mir passiert, ist völlig gleichgültig. Die NSA wird schon alles regeln, wie sie es brauchen.“ Megan wusste, dass er Recht hatte und ließ die Waffe sinken. „Schön brav auf den Boden damit“, kam die nächste Aufforderung, welche ebenso sofort befolgt wurde. „Ich denke, ich bin dein nächstes Ziel?“ rief Don nun vollkommen wütend und gleichzeitig verwirrt. „Stimmt.“ Nick drückte ab, aber die Kugel verfehlte ihr Ziel. Don wusste, dass er absichtlich daneben geschossen hatte. Aber warum hatte er überhaupt geschossen?
Nick hatte nach dem Schuss sofort die Waffe weg geworfen und stürmte auf den Rand des Daches zu. Megan reagierte sofort und griff nach ihrer Waffe. Aus der Hocke heraus schoss sie sofort, doch das konnte Nick nicht davon abhalten, sein letztes Ass auszuspielen. Als er vom Dach absprang, spürte er den Schmerz im linken Oberschenkel, wo ihn Megan gerade erwischt hatte. Trotz des Anzuges, der bis zu einem gewissen Grad kugelsicher sein sollte, hatte sich das Geschoss bis in sein Bein gebohrt. Er wusste genau, warum. Die Entfernung war sehr kurz gewesen und das Material dafür dann einfach zu schwach. Das Risiko hatte er eingehen müssen. Nach dem Absprung merkte er, wie die Schwerkraft an ihm zog. Er wartete noch einen kurzen Augenblick und zog dann an einem kleinen Riemen an seiner linken Schulter. Aus dem Rückenteil des Anzugs entfaltete sich eine Art Mini-Fallschirm, der den Sturz bremste und ihn langsam zu Boden treiben ließ. Zu seinem Unglück ging eine leichte Brise, die ihn von seinem Fahrzeug wegtrieb, da diese Mini-Ausführung keinerlei Steuerungsmöglichkeiten besaß.
Oben auf dem Dach half Megan Don gerade auf die Beine und zusammen rannten sie zum Dachrand. „Verdammt, wenn er uns entkommt, wird die NSA auch alles andere dementieren und verschwinden lassen“, ärgerte sich Don. „Ich habe ihn erwischt“, hörte er ein Stück hinter sich Megan sagen. „Was?“ „Hier ist Blut. Also habe ich ihn doch am Bein getroffen“, mutmasste sie. Die beiden FBI-Leute sahen sich kurz an und stürzten zur Treppe. Auf halbem Weg kam ihnen Colby entgegen. „Was ist denn da oben passiert?“ fragte er, bekam von Don jedoch keine Antwort. Stattdessen bellte dieser ihn förmlich an: „Wo ist der Wagen?“ „Vor der Tür“, antwortete ein sichtlich verdutzter Colby, an dem Megan und Don im Treppenhaus vorbeirannten. Er schloss sich den Beiden an: „Schlüssel steckt?“ wollte Megan wissen. „Klar doch.“ „Gut.“
Nick hatte den Boden längst erreicht, musste nun aber ein Stück zurück zu seinem Fahrzeug. Der Fallschirm störte und so riss er das leichte Material von seinem Anzug ab. Schnell wickelte er es zusammen, band es um seinen verletzten Oberschenkel und hoffte, dass der Knoten hielt, um die Blutung zu stoppen. Er spurtete so gut es ging zu einem schwarzen Pontiac G8, öffnete die Fahrertür und hüpfte auf den Sitz. Im Nu hatte er das Fahrzeug angeworfen und rauschte los, doch im Rückspiegel konnte er bereits die Scheinwerfer des Verfolgers sehen. Zum Vorteil des Killers war es Nacht und somit herrschte nicht viel Verkehr. Die Verfolgungsjagd konnte also beginnen.