Lia kauerte sich auf einer der Bänke, die vor dem U-Bahnhof Wittenbergplatz standen, zusammen, um eventuellen Angreifern, keine Angriffsfläche bieten zu könnten. Sie wusste nicht, wie lange Richard brauchen würde, um hier zu sein, hoffte aber, dass sie nicht zu lange warten musste. Es war nicht viel Betrieb um diese Uhrzeit hier, dafür waren die Gestalten, die hier rum liefen, umso unheimlicher. Aus der Eingangshalle, des U-Bahnhofes, drang das Licht auf den kleinen Platz, vor dem Eingang. Lia wusste zumindest, aus welcher Richtung Richard kommen würde und beobachtete daher, den Verkehr aus eben genau dieser Richtung.
Zuerst erschrak sie, als sie ihren eigenen Namen hörte, sprang dann aber auf und lief ihm entgegen. "Lia!" Richard war froh, dass er sie unversehrt vorfand. Lia fiel ihm um den Hals. "Es tut mir leid", kam leise und völlig entkräftet von ihr. Richard ging erst mal nicht darauf ein. Er drehte ihr Gesicht zu sich, um sie an zu sehen. "Lia? Ich wollte dir nie weh tun, dass vorhin....", sie unterbrach ihn. "Das weiß ich...können wir nach hause fahren?" fragte sie wieder sehr leise und unsicher. "Ja, aber was ist denn mit deinem Auto?" Lia deutete mit einer Kopfbewegung, in Richtung des KaDeWes. "Es steht im Parkhaus. Ich hab die Öffnungszeiten nicht mehr im Kopf gehabt." Das Auto war für Richard erst mal Nebensache. Er wollte Lia nur mit sich nehmen und über das reden, was geschehen war.
Als die Beiden wieder zuhause ankamen, fiel Lia geschafft auf die große Couch im Wohnzimmer. Sie hatten beide nicht mit miteinander gesprochen auf der Rückfahrt. Und auch jetzt, erfüllte Schweigen die gesamte Wohnung. Richard setzte sich neben Lia auf die Couch und sah sie an. "Was habe ich falsch gemacht? Habe ich dich zu lange alleine gelassen?" durchbrach Richard nun das Schweigen. Diese Fragen bewegten ihn schon die ganze Zeit, seit dem Vorfall im Hausflur. Sie schüttelte kraftlos ihren Kopf. "Nein, du hast nichts falsch gemacht und du hast mich auch nicht zu lange alleine gelassen." "Was ist es dann? Warum?"
Lia seufzte leise. "Es gibt kein warum. Ich liebe dich. Ich habe nie aufgehört dich zu lieben. Und ich liebe dich immer noch nach wie vor." Richard war verwirrt. "Und warum finde ich dich dann küssend mit einem Anderen im Flur vor?" "Ich habe mich in ihn verliebt." Dies war eine besondere Sache an Lia. Sie kam ohne große Umschweife zum Punkt. Weshalb Richard nie daran gezweifelt hatte, dass sie ihn belog. Im Moment musste Richard, aber erst Mal, dass eben gehörte, irgendwie verarbeiten. Er versuchte es zu verstehen. Es fiel ihm schwer. Sehr schwer sogar. Hatte sie doch eben noch gesagt, dass sie ihn lieben würde und im nächsten Augenblick, dass sie sich in jemand anderen verliebt hatte. Ging so etwas überhaupt? Richard hatte keine Antwort darauf. Noch nicht. "Lia? Ist dir eigentlich klar, was du da redest? Eben sagst du noch, dass du mich nach wie vor liebst und im selben Atemzug erzählst du mir, dass du dich verliebst hast?"
Etwas zweifelnd sah er Lia an. "Ich weiß nicht, ob so was möglich ist, aber offensichtlich wohl schon. Mir ergeht es gerade so." Richard beobachtete jede Mimik von Lia. Sie meinte es ernst. Er hatte sie noch nie zuvor so erlebt. Nicht in diesem Zustand, wie sie hier vor ihm saß. Man konnte in ihrem Gesicht, genau ablesen, das sie nicht mehr konnte, dass sie mit den Nerven am Ende war, dass sich ihre Gedanken zu überschlagen schienen. UND: das sie es immer noch ernst meinte damit.
Immer noch leicht ungläubig, über ihre Aussage, blickte Richard sie an. "Richard? Denkst du wirklich, wenn ich dich nicht mehr lieben würde, dass es mir dann so gehen würde, wie jetzt? Hältst du mich für so eine gute Schauspielerin?" Sie erwartet keine Antwort auf diese Frage. Eigentlich war dies eben auch überflüssig gewesen. Aber sie wusste sich nicht mehr anders zu helfen. Wusste sie denn überhaupt noch irgendetwas? Es hatte nicht den Anschein. Richard war wohl gerade im Augenblick genauso durcheinander, wie seine Frau. "Es gehören immer zwei dazu." stellte sie belanglos fest. "Und?" kam als fordernde Frage. "Nichts und. Ich bin mir nur eigentlich nicht sicher, ob Sam genauso denkt." "Sam? Der Typ, der dich, im Flur..." Lia unterbrach, "Ja!" Richard dachte nach, Lia hatte den Namen kurz einmal erwähnt. Es fiel ihm wieder ein. "Er ist unser neuer Nachbar." stellte Richard entgeistert fest. Wie lange wohnte er jetzt hier? Ein bisschen mehr als 24 Stunden, wenn er Lia richtig verstanden hatte. Er kam ins Grübeln. Sollte es wirklich erst gerade angefangen haben?
"Habt ihr...also du und Sam...habt ihr miteinander gesprochen?" wollte sie nun wissen. "Insgesamt drei Sätze. Warum?" "Worüber?" kam als Gegenfrage von Lia. "Er sagte mir, dass es nicht deine Schuld sei und dass es ihm Leid tut." Lia schloss die Augen. Sie war gerade den Tränen nahe. Warum hatte sich Sam, für das, was sie beide anging, entschuldigt? Hatte er ihr doch gesagt, dass es auch für ihn mehr sein würde, als nur körperliches Verlangen. Sie konnte die Tränen nicht aufhalten. Wieder ein Mal, fing sie an zu weinen. Das zweite Mal, innerhalb kürzester Zeit. Und das, wo sie eigentlich eher selten in Tränen ausbrach.
War Richard doch bis jetzt, sich nicht sicher gewesen, ob Lia es mit ihrer Aussage, dass sie sich in Sam verliebt hatte, ernst gemeint hatte. So musste er sich doch nun eingestehen, dass sie es wirklich ernst meinte. Er hatte Lia, während des ganzen letzten Jahres, vielleicht zwei Mal weinen sehen. Und die Anlässe dazu, waren definitiv von Trauer begleitet worden. Er überwand die kurze Distanz zwischen sich und Lia und nahm sie in den Arm. Lia war dankbar über die plötzliche körperliche Nähe von Richard. Sie klammerte sich an ihn und flüsterte: "Lass mich nicht wieder los."