Lia zitterte am ganzen Körper und hatte Angst. Sie war schockiert über das was gerade vorgefallen war. War das eben noch der Mann, der damals vor ihrer Tür gestand hat und nach Salz gefragt hatte? Nein, es war nicht Sam gewesen, der ihr eben so wehgetan hat. Sam hatte sich von ihr schlagartig zurückgezogen, als er wahrnahm, was er getan hatte. Sie war nicht im Stande irgendetwas zu denken. Sie sah Sam, wie er sich ihr gegenüber in die Ecke des Wagens zusammen gekauert hatte. Sie versuchte zu verstehen, was eben passiert war, fand aber keine Erklärung dafür. Sie erwachte aus ihrer Starre und suchte zu aller erst ihren Pulli, den sie sich auch gleich überzog.
Lia versuchte ihre Gedanken zusammen zu sammeln, es war ihr nicht möglich. Immer noch zitterte sie am ganzen Leib. Wie sie Sam, so zusammen gekauert, in der Ecke sitzen sah, spürte sie instinktiv, dass er nicht mehr Herr seiner eigenen Sinne gewesen war. Er hatte die Beherrschung verloren. Die gesamte Situation schrie danach, dass Lia aus dem Wagen flüchten sollte, doch sie konnte nicht. Irgendetwas sagte ihr, dass es nun vorbei war, es würde kein zweites Mal geben. Immer noch versuchte sie ihre eigenen Gedanken, wieder klar zu bekommen, was ihr im Ansatz auch ein wenig gelang. Schweigen erfüllte den kleinen Innenraum des Wagens. Weder Lia noch Sam waren in diesem Moment der Sprache mächtig. Es war auch nicht nötig, dass Gesprochen wurde. Zumindest nicht jetzt. Lia war durcheinander, wollte sie doch verstehen, was in Sam vorging.
Konnte sie es überhaupt verstehen?
Wollte sie es?
Ja!
Zum ersten Mal, seit Sam aufgetaucht war, konnte Lia eine Frage, die mit Sam zu tun hatte, mit einer eindeutigen Aussage beantworten. Sie merkte, wie ihre Gedanken langsam wieder zur Ruhe kamen. Sam hatte sich nicht mehr gerührt und Lia auch nicht angeblickt. Wahrscheinlich konnte er es nicht. Lia war sich ziemlich sicher, dass es so sein würde. Hatten sich eben noch ihre Gedanken beruhigt, fingen sie erneut an sich wie wild zu überschlagen. Würde Sam jetzt alles aufgeben? Zurück in die Staaten gehen und sich von ihr abwenden? Würde er ohne ein Wort gesagt zu haben, einfach verschwinden? Sie erschrak bei diesen Fragen.
Das durfte nicht passieren. Auf keinen Fall. Das war für sie sicher. Lia konnte nicht ausblenden, was eben geschehen war, wusste aber, dass dies nicht der Mann war, in den sie sich verliebt hatte. Irgendetwas hatte Sam mutieren lassen, so dass er nicht mehr er selbst gewesen war. Wieder sah sie rüber zu Sam. Das was sie dort sah, war im Ansatz der Mensch gewesen, den sie kennen und lieben gelernt hatte. Sie wusste, dass sie das, was zwischen ihnen bisher gewesen war, nicht einfach aufgeben wollte, dazu war ihre Liebe zu stark zu Sam. Sie musste es ihm nur begreiflich machen. Ihr Körper hatte sich langsam beruhigt und hörte auf zu zittern, das war es worauf Lia gewartet hatte.
Lia gab sich und ihrem Herzen einen Ruck. Sie rappelte sich umständlich aus ihrer Ecke hoch und krabbelte das kurze Stück, zwischen sich und Sam, auf allen Vieren rüber. Sam sah sie immer noch nicht an. Er blickte abwechselnd in den Fußraum und aus der Fensterscheibe, welche getönt war. Mit ihrer linken Hand ging sie Sam ans Gesicht, um es zu sich zu drehen. Sam blieb stur, er wollte es nicht. "Sieh mich an", bat sie ihn leise, mit halb erstickte Stimme. Stumm schüttelte Sam den Kopf. "Bitte", flehte sie. Sam hatte offenbar große Schwierigkeiten, der Bitte von Lia nachzukommen, dass spürte sie. Sie ließ aber nicht locker. Viele Möglichkeiten gab es nicht. Entweder würde Sam sie ansehen und somit auch mit ihr reden, oder er würde einfach wortlos den Wagen verlassen. Lia hoffte, dass letzteres nicht in Kraft treten würde. "Ich...ich kann nicht", flüsterte Sam. "Doch du kannst, dass weiß ich, bitte Sam. Sieh mich an." Sie wollte nicht so ohne weiteres aufgeben. Ihre Bitte blieb ohne Erfolg. Lia konnte und wollte, die Geschehnisse nicht einfach so ungeklärt lassen.
"Lia...ich...ich habe dir wehgetan", stotterte Sam unbeholfen. "Ja...nein", kam ein wenig durcheinander, aber dennoch überzeugt, von Lia. Nun blickte Sam sie doch an, war er doch, durch das eben gehörte verwirrt. "Das warst nicht du, dass war nicht Sam", sagte sie entschlossen. Immer noch sah er sie verwirrt an, hatte er ihr doch nicht nur körperlich Schmerzen zugefügt, sondern auch ihre Gefühle einfach missachtet. Lia seufzte und setzte zu einer Erklärung an, damit Sam nicht mehr verwirrt war. "Die Schmerzen an mir vergehen wieder und hinterlassen keine Narben, aber....", sie nahm Sams Hand und führte diese zu ihrem Herzen, "aber diese Schmerzen, hier drin, die vergehen nicht und sie hinterlassen auch bleibende Narben, die nicht mehr heilen. Du tust mir mehr weh, wenn du dich jedes Mal wieder von mir abwendest, ohne dass ich, den eigentlichen Grund kenne. Das tut VIEL mehr weh, als das was eben passiert ist." Der Rest des Satzes ging fast unter, da Lia mit den Tränen zu kämpfen hatte und den Kampf auch verlor.
Ihr kullerten bereits die ersten Tränen über ihr Gesicht. "Sam? Merkst du denn gar nicht, wie sehr ich dich liebe?" Brachte sie unter tränenerfüllter Stimme hervor. Sam blieb stumm. "Wenn du jetzt gehst, fügst du mir eine Wunde zu, die nicht heilbar ist. Mir ist klar, dass du nicht für immer hier bleiben wirst, aber bitte bleib jetzt hier. Hier bei mir und Richard." Lia konnte nicht mehr und brach unter ihren Tränen zusammen. Nun musste sie doch die Flucht ergreifen, nicht vor Sam, sondern vor sich selber. Sie robbte zurück auf die andere Seite des Wagens, entriegelte die Tür und hechtete hinaus. Sie brauchte frische Luft. Lia bekam das Gefühl, als wenn sich alles um sie herum drehen würde. Hatte sie Sam doch grad eben gesagt, wie es in ihr aussieht. Und was dieses ständige Hin und Her von ihm, in ihr auslöste. Sie entfernte sich ein Stück von dem Jepp und begann nun auf und ab zu gehen. Einfach nur, um ihre Gefühlswelt wieder in Ordnung zu bekommen. Zu einem anderen Zweck diente ihre überhastete Flucht nicht. Ihre Gedanken kreisten abermals, um sich selbst, ihre Liebe zu Sam und Richard und was alles passiert war. Es war eindeutig zu viel sie. Sie brach bewusstlos, auf dem Asphalt, zusammen.